Leseprobe: »Fehlkonstruktion«

I

 

 Ja, ich weiß, was die meisten von euch jetzt denken: ›Nicht noch so ein typischer Schwulen-Schmacht-Roman, an dessen Ende sich die beiden Auserwählten sowieso bekommen.‹

Leider muss ich euch enttäuschen. ›Leider‹ für die, die auf solche Schnulzen stehen und natürlich für mich, denn gegen eine gewisse Komplikationslosigkeit in diesem Bereich meines Lebens hätte ich keine Einwände.

 

An dieser Stelle eines Romans - wenn in meinem Fall der Begriff ›Drama‹ auch treffender wäre - kommt, wie mir bekannt ist, die obligatorische Vorstellung des Protagonisten. Ich überspringe dies dezent, denn mit den üblichen Attributen, wie groß, muskulös, durchtrainiert, super-coole Frisur, bestechenden grün-grau-wie-auch-immer-gesprenkelten Augen und dergleichen kann ich wahrlich nicht dienen.

Vielleicht kennt ihr ja so einen Typen aus Schule, Studium, Arbeit, Nachbarschaft, Freundeskreis oder dem örtlichen Schneckenzüchter-Verein, was weiß ich. Jemanden, der durchweg unauffällig ist. Weder hübsch, noch super-hässlich, ein wenig zu viel Bauchansatz, stets in Alltagsklamotten, die dazu meist auch noch ein bisschen verwaschen wirken, augenscheinlich nett und über den man doch im Grunde genommen nicht wirklich etwas weiß. Habt ihr ein Bild vor Augen? Gratulation, dann kennen wir uns vielleicht sogar.

Oder wohl eher nicht, denn ich bezweifle, dass irgendwen aus meinem Bekanntenkreis meine Geschichte interessiert. Schließlich bin ich die Langeweile in Person.

Nach dem Informatikstudium begann ich bei einer Firma zu arbeiten, die Software für Apotheken entwickelt und anbietet. Mit diesem Job wird man zwar nicht reich, aber ich kann mich auch nicht beklagen. Denn als ich damals anfing zu studieren, schrie jedermann nach Informatikern und alle stürzten sich auf diesen Studiengang, ohne dabei zu bedenken, dass es dann ja plötzlich ganz viele von uns geben wird. Zugegeben, ich hatte diesen Aspekt genauso wenig bedacht.

Nach meinem Abschluss vor acht Jahren war der Markt regelrecht überschwemmt und ich froh um meinen Arbeitsplatz, den ich seitdem nicht gewechselt habe.

Zum einen mag ich Veränderungen nicht sonderlich, zum anderen hätte das bedeutet, aus meiner Heimat wegziehen zu müssen.

Nein, ich wohne nicht mehr im ›Hotel Mama‹. Bereits zu Studienbeginn bin ich von zu Hause ausgezogen, um mit Heiko, meinem Sandkastenfreund, eine WG zu gründen, die genau genommen nur aus uns beiden bestand. Mittlerweile lebe ich zwar alleine, dennoch ist Heiko der Grund, weshalb ich nicht weg will. Ja, ihr ahnt es sicher schon. Es ist die älteste aller Geschichten: Ich bin in meinen besten Freund verliebt. Und um es mir so richtig übel mitzugeben, ist er natürlich hetero und obendrein mit meiner kleinen Schwester verlobt. In einem halben Jahr ist die Hochzeit.

Dreimal dürft ihr raten, wer sein Trauzeuge sein wird.

 

Bisher weiß Heiko nichts von meinen Gefühlen ihm gegenüber und ich werde den Teufel tun, etwas daran zu ändern. Zwar weiß er, dass ich schwul bin, doch dass er der Grund dafür ist, dass ich noch nie eine Beziehung hatte, das weiß er nicht.

Er denkt, ich hätte einfach nur noch nicht den Richtigen gefunden. Dabei geschah das bereits vor dreißig Jahren, als wir uns mit gerade mal zwei Jahren im Kindergarten kennenlernten.

Wir klebten von Anfang an wie die Kletten aneinander und stellten sämtlichen Blödsinn zusammen an. Oh, die Mädchen haben uns regelrecht gehasst, weil wir immer Regenwürmer in ihren Schuhen oder Mützen versteckt haben. Mit vierzehn tranken Heiko und ich heimlich unser erstes Bier, das ich aus dem Keller meiner Eltern hatte mitgehen lassen, und holten uns hinterher gegenseitig einen runter. Von diesem Zeitpunkt an wollte ich keinen anderen mehr.

Dumm nur, dass Heiko sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnte und mir war das Ganze derart peinlich, dass ich nie wieder ein Wort darüber verlor.

Tja, und dann kam meine Schwester in die Pubertät und irgendwann besuchte er mehr Rebecca als mich. Wie üblich in dem Alter war sie mit den zwei Jahren, die sie jünger ist als wir, deutlich reifer als die gleichaltrigen Jungs. Dass Heiko damals statt mit ihr mit mir zusammengezogen ist, lag einzig daran, dass Rebecca zu dem Zeitpunkt noch nicht mit der Schule fertig war und unsere Eltern dementsprechend dagegen, sie gehen zu lassen. Andernfalls wäre es nie dazu gekommen, das weiß ich genau.

 

Das ist also der Status quo: Ich, Falk Meinecke, 32 Jahre, graue Maus, sexuell unerfahren (der One-Night-Stand, den ich mit zwanzig hatte, weil ich es endlich hinter mir haben wollte, zählt für mich nicht wirklich), heimlich verliebt in den besten Freund ohne Aussicht auf Besserung, sitze hier und heule Fremden die Ohren voll.

Super, und jetzt habe ich mich doch beschrieben. Na ja, vergesst es einfach, machen alle anderen schließlich ebenfalls.

Doch von nun an wird alles anders. In ein paar Minuten holt mich Birgit ab; meine beste Freundin.

Als wir uns vor ein paar Jahren kennenlernten, war sie noch mit dem Typen, der über mir wohnte, zusammen. Wir sind uns ein paar Mal im Treppenhaus und beim Einkaufen begegnet. Irgendwann machte ich den Fehler, sie zu fragen, wie es ihr denn ginge. Eine Frage, die normale Menschen, mit einem »Gut, danke« beantworten. Nicht so Birgit. Sie schüttete mir ihr Herz über die böse Männerwelt aus und dass sie zwar wisse, dass ihr Freund sie betröge, aber dass sie ihn zu sehr liebe, um ihn zu verlassen. Diesen besagten Abend verbrachten wir mit viel Reden, viel Lachen und noch mehr Tequila in meinem Wohnzimmer.

Es tat gut mit jemandem, der einen objektiven Blick auf die Dinge hat, über alles zu sprechen. Ihr mein Herz auszuschütten, fiel mir extrem leicht, sodass ich das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen. Birgit ist damit die Einzige, die über mein Dilemma Bescheid weiß. Sie versteht mich und verurteilt mich nicht, auch wenn sie mir immer wieder klarzumachen versucht, dass ich mich lösen muss. Selbstverständlich weiß ich das ebenfalls, doch sagt sich so etwas immer so leicht. Herz und Verstand gehen eben leider nicht immer konform. Birgit ist dies ebenso bewusst, weshalb sie mir immer wieder geduldig zuhört, mich aufbaut und mir Ratschläge gibt. So gesehen war es im Nachhinein betrachtet kein Fehler gewesen, sie anzusprechen.

Damals machte sie kurz darauf endlich mit ihrem untreuen Freund Schluss. Ich tröstete sie, wir lästerten noch mehr über Männer und seit dieser Zeit möchte ich sie nicht mehr in meinem Leben missen. Als Birgit und Heiko das erste Mal aufeinandertrafen, war mir ein wenig mulmig zumute. Doch sie ließ sich nichts anmerken, bis heute nicht.

Schon seit einer halben Ewigkeit versucht sie mich davon zu überzeugen, dass ich etwas ändern muss, vor allem mich selbst. Dabei stichelt sie zwar gern, drängt mich aber nie. Birgit ist eben zum einen ein echter Kumpel, zum anderen ist sie aber auch eine typische Frau, die einen Teil der üblichen Frauengene besonders stark ausgeprägt innehat. Ganz oben auf der Liste steht: Klamotten shoppen. Bisher habe ich mich erfolgreich vor ihren Versuchen, mir die neueste Mode anzudrehen, drücken können. Sie hat zwar ab und zu mal nachgehakt, aber bisher immer akzeptiert, wenn ich dankend ablehnte. Die einzige Konsequenz, die daraus folgt, ist, dass sie für sich nur umso mehr einzukaufen scheint. Dabei ›darf‹ ich immer mitkommen, sei es als kritischer Berater oder als der Depp, der alles zu ihr nach Hause trägt.

Aber heute ist nicht sie es, die unbedingt shoppen will, sondern ich möchte mich selbst endlich neu einkleiden. Ich habe es nämlich allmählich satt, still vor mich hin zu leiden. Es gibt genügend tolle Männer da draußen. Da wird doch wohl einer dabei sein, der mich Heiko vergessen lässt!

Birgit hat sich gefreut, als fielen Weihnachten und ihr Geburtstag auf einen Tag, als ich ihr meinen Entschluss zur Lebensveränderung mitteilte.

»Na endlich, Falk. Ich hatte schon befürchtet, du schaffst den Absprung nie. Wir machen aus dir einen neuen Menschen. Du wirst sehen: Die Männer werden reihenweise umfallen.«

 

Ganz so schlimm ist es glücklicherweise nicht geworden. Aber als ich abends nach Hause komme, besitze ich drei neue Hosen, einige T-Shirts sowie Hemden und sogar zwei Paar neue Schuhe. Das Argument, meine Sneakers seien doch noch völlig in Ordnung, ließ Birgit nur die Augen verdrehen. Stattdessen nahm sie mir das Versprechen ab, dass ich diese ›siffigen Dinger, die nur noch vom Dreck zusammengehalten werden‹ entsorge, sobald ich zu Hause bin. Als ich dann meine langen Wegbegleiter so lieblos in dem Plastikmülleimer liegen sehe, bin ich kurz versucht, Trauermusik zu spielen.

Zur Krönung hat Birgit mich noch zum Friseur geschleift. Dabei ist der letzte Schnitt höchstens drei Monate her und meine Mutter macht das wirklich nicht schlecht.

Birgit war ein wenig enttäuscht, dass der Friseur hetero und verheiratet ist. Ein Umstand, der sowohl ihm als auch mir zugutekam, sonst hätte sie sicher keine Ruhe gegeben, bis wir uns verabredet hätten.

So laufe ich nun mit der ersten professionellen Frisur meines Lebens herum. Ich muss zugeben, es sieht gar nicht mal übel aus, was er aus den Fransen gemacht hat. Dass die blonden Strähnen tatsächlich nötig waren, bezweifle ich, aber das wächst ja auch wieder raus.

 

~*~*~

 

Am Montagmorgen bin ich wie üblich eine halbe Stunde zu früh auf der Arbeit. Wir fangen um acht an, aber wenn ich später losfahre, stünde ich derart im Stau, dass ich regelmäßig unpünktlich wäre.

Notorische Zuspätkommer kann ich nicht leiden, weshalb ich selbst meistens zu früh bei Verabredungen erscheine.

Ich schlurfe also in die Küche unseres Büros - denn ohne die zweite Tasse Kaffee bin ich noch kein Mensch - als mein Chef hereinkommt. Eigentlich ist er nie vor neun Uhr im Haus, wenn überhaupt.

»Uwe? Was ist los? Hat deine Frau dich rausgeschmissen?«, witzle ich und widme mich wieder der Kaffeemaschine.

»Was machst du hier, Falk?«

Mit Blick über meine Schulter sehe ich ihn fragend an. »Ich arbeite hier, sofern sich seit Freitag nichts daran geändert hat.«

»Scherzkeks. Du bist doch heute im Kundeneinsatz.«

Wie bitte? Warum steht das denn nicht in meinem Kalender? Ich trage die Termine immer ein, auch in mein Handy, damit ich den Überblick behalte. Hat Henning vergessen, mir Bescheid zu geben? Sähe ihm durchaus ähnlich.

Stirnrunzelnd hole ich mein Smartphone hervor, öffne die Kalender-App, heutiger Tag. Na also, da ist kein ...

»Mist!« Ich hab’s tatsächlich übersehen. Das ist mir noch nie passiert!

Die Adresse steht auch dabei. Bei dem Berufsverkehr kann es eng werden, rechtzeitig dort zu sein.

Ich laufe zurück ins Büro und greife mir die Jacke vom Haken. Wo habe ich nur den Autoschlüssel? Ich klopfe meine Hosentaschen ab. Nichts. In der Jacke ist er ebenfalls nicht. Ich drehe mich um mich selbst. Habe ich den etwa verloren? Mir wird warm. Ich streife die Jacke wieder ab. »Mist!«

»Hier!« Uwe hält mir den Schlüssel vors Gesicht. Woher ...? Egal. Ich hechte zur Tür und stolpere beinahe über meine eigenen Füße.

»He, mach langsam! Henning ist schon vor Ort.« Henning ist unser Mann fürs Grobe. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich der Hardware, während ich für den Rest zuständig bin.

»Wann öffnen die?« Kurzer Blick auf die Uhr. Es ist Viertel vor acht.

»Um halb neun, glaube ich.«

»Okay, das schaffe ich.« Hoffe ich zumindest. Wenn ich den Schleichweg nehme und überall minimal die Geschwindigkeit übertrete, müsste es klappen.

»Falk, fahr vorsichtig«, ermahnt mich mein Chef. »Ich brauche dich noch. Das Basisprogramm einspielen bekommt Henning ebenso hin. Das gibt dir ein wenig mehr Zeit.«

Ich nicke, doch wir wissen beide, dass ich diese Dinge lieber selbst erledige.

Mit meinem Rucksack in der Hand bin ich schon fast aus dem Büro gelaufen, als Uwe noch hinterhersetzt: »Siehst übrigens gut aus. Steht dir.«

»Äh ... danke?« Ja, ich habe heute gleich eins der neuen Outfits angezogen. Und? Ich meine, ich gehe kaum weg und wenn ich etwas ändern will, sollte das wohl im Alltag beginnen.

Ich sehe ihn nur noch grinsen, bevor ich zum Auto eile.

 

~*~*~

 

Um 8:28 Uhr stehe ich vor besagter Apotheke. Durch das Schaufenster erkenne ich Henning und einen Typ im weißen Kittel, wobei es sich vermutlich um den Chef handelt. Obwohl er reichlich jung aussieht. Ich bezweifle, dass der überhaupt schon dreißig ist.

In Ermangelung einer Klingel klopfe ich an die Scheibe. Der Apotheker kommt lächelnd auf mich zu und drückt von innen einen Knopf. Die Automatiktür öffnet sich.

»Guten Morgen! Falk Meinecke. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung«, rede ich sofort auf ihn ein.

»Kein Problem. Herr Römer hat uns informiert, dass Sie im Stau stehen.« Er lächelt meine Entschuldigung einfach weg und ich verfalle kurz in ungläubiges Starren. Dürfen Apotheker so gut aussehen?

»Ich bin übrigens Marius Wenke.« Der Typ streckt mir seine Hand entgegen. Fester, kräftiger Händedruck und so wie der aussieht, hat er sicher an jedem Finger drei Frauen. Durchtrainiert, ohne prollig zu wirken, und auch der leichte Bartschatten passt zu ihm. Ob die fast schwarze Farbe seiner Haare wohl aus der Tube kommt? Sind sie von Natur aus ein wenig widerspenstig oder ist diese Frisur gewollt? Sind seine Haare so weich, wie sie aussehen? Und warum frage ich mich das alles?

Räuspernd entziehe ich ihm meine Hand.

»Also, Herr Wenke ...«

»Marius«, unterbricht er mich. Ich blinzle einige Male. Herr Wenke grinst mich an. »Einfach Marius«, ergänzt er.

»O ... Okay.« Oh, Mann! Der Kerl hat ein dermaßen charmantes Lächeln, dass es einem das Hirn aus dem Kopf saugt und man dabei auch noch freudig »Ja!« ruft. Ich lächle zurück und verspüre einen gewissen Stolz, das ohne größere Probleme zu bewerkstelligen.

»Also ... Marius«, betone ich und er lächelt gleich noch eine Spur breiter. »Wie weit sind Sie schon gekommen?«

Henning räuspert sich. Stimmt, das sollte ich eher meinen Kollegen fragen.

»Alte Hardware ist raus, neue drin. Ich wollte gerade den Server einrichten, aber das kannst du ja jetzt machen. Dann kümmere ich mich in der Zeit um die Kleinteile.« Henning deutet auf das Kabelwirrwarr.

»Okay. Entschuldigung«, wende ich mich erneut an Marius. »Bis halb neun wird es wohl nichts.« Vor allem, da es laut meinem Handy bereits 8:37 Uhr ist.

»Ach, wir öffnen erst um neun und selbst wenn, dann werde ich eben improvisieren.«

Okay, neun müsste zu schaffen sein. Wenigstens der Server und eine Kasse.

Es wird zehn nach neun, aber immerhin. Marius ist begeistert. Seine beiden Angestellten ebenfalls.

Als ich mir das Feintuning des Servers vornehme, kommt Henning zu mir.

»Sag mal, hast du jetzt ’nen Styling-Berater?«

Ich ignoriere seine spitze Bemerkung. Schließlich sehe ich nicht viel anders aus als er, nur ist man es von mir nicht gewohnt.

»He, das war ein Kompliment. Gefällt mir.«

Ein kurzer Seitenblick auf ihn bestätigt, dass er es ehrlich meint. Ich zucke mit den Schultern. »Dachte, ich gönne mir mal was Neues.« Genau, immer schön beiläufig klingen, richtig so.

»Hm, und das genau zur passenden Zeit, wie’s aussieht.« Henning grinst mich vieldeutig an.

»Hm?«, mache ich, während ich darauf warte, dass der Computer meine Änderungen übernimmt.

Henning kommt näher. »Nun, Herr Wenke hat mir nicht das ›Du‹ angeboten. Der steht auf dich«, flüstert er.

»Du spinnst doch«, wiegle ich ab und konzentriere mich weiter auf meine Arbeit. Also, ich versuche es. Einige Male vertippe ich mich, so sehr zittern meine Hände.

Das glaube ich einfach nicht. Der ist nie und nimmer schwul und wenn, steht der sicher nicht auf unscheinbare graue Mäuse.

»Glaub mir. Ich habe einen Blick für solche Dinge.« Henning zwinkert mir erneut zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmet.

Kopfschüttelnd sehe ich ihm nach. Als wenn er das als Hetero beurteilen könnte.

»Kaffee?« Ich zucke heftig zusammen, als Marius plötzlich neben mir steht. Wo kommt der denn her?

»Äh ...« Ich freue mich doch immer wieder über meine Eloquenz. »Milch? Zucker?«, fragt er weiter.

Mein Kopfschütteln lässt Marius lachen. »Auf welche Frage war das jetzt die Antwort?«

»Ohne alles«, erwidere ich krächzend. Himmel, warum ist mein Hals denn so trocken?

Dankbar, mich an etwas festhalten zu können, nehme ich Marius die Tasse ab.

»Also, Falk ...« Erwähnte ich schon, dass ich es mag, wie er meinen Namen ausspricht? Oje! Was passiert hier mit mir? Solche Hormonwallungen hatte ich nicht mehr seit der Sache mit Heiko damals.

»Machst du die Betreuung hier vor Ort?« Den intensiven Blick über den Rand der Tasse hinweg bilde ich mir bestimmt nur ein. Man sieht doch immer nur das, was man gerne sehen will, nicht wahr? Dennoch bewirkt allein diese Illusion ein warmes Kribbeln in mir. Ob es vermessen wäre zu fragen, ob ich ein Bild seiner Augen in meiner Wohnung aufhängen darf? Dann könnte ich seufzend davorsitzen und mich darin verlieren.

Kopfschüttelnd schaue ich nach unten und puste in meine Tasse.

»Äh, nein. Frau Herold müsste gleich da sein. Sie ist heute und morgen für Sie da. Also, für dich, euch, Sie ... also ...« Wow! Ich habe mich selten so peinlich benommen. Mein Gesicht glüht. Ich sehe Marius lächeln, als ich kurz den Blick hebe.

»Schade.«

Schade? Was meint er denn damit?

»Das heißt, wenn alles eingerichtet ist, bist du wieder weg, ja?«

Ich nicke nur. Bloß nicht noch mehr reden. Das übersteigt momentan bei Weitem meine Fähigkeiten.

»Hm, vielleicht solltest du mir deine Nummer geben, für den Fall, dass mal etwas mit der Software sein sollte.«

»Da ... Dafür gibt es dann ja die ... die Hotline.« Ich habe 32 Jahre nicht gestottert - warum fange ich jetzt damit an?

»Schon, aber du weißt doch besser, was genau du hier gemacht hast.«

Uwe mag so etwas nicht, dennoch höre ich mich sagen: »Meine Durchwahl ist die 311.«

Marius nickt und kommt ein wenig näher. »Und hast du auch eine Handynummer für den Notfall?«

Ich schlucke mehrmals. Wo ist denn die ganze Feuchtigkeit aus meinem Mund hin? »Äh, wieso ...? Das wird dann eh umgeleitet und ...«

»Mann, Falk«, unterbricht Henning mein Gestammel. »Herr Wenke möchte gerne deine Privatnummer, um dich näher kennenzulernen.« Spinnt der jetzt vollkommen? Der kann doch so etwas nicht einfach so sagen! Hektisch sehe ich zwischen ihm und Marius hin und her.

»Entschuldigen Sie, Herr Meinecke ist manchmal etwas schwer von Begriff«, wendet er sich nonchalant an Marius.

Geht’s noch peinlicher? Doch Marius scheint das nicht zu stören. Im Gegenteil, er grinst jetzt ebenfalls und zwinkert Henning zu. »Gut zu wissen.«

Jetzt sieht er mich erneut abwartend an und ich frage mich, ob schon einmal jemand gestorben ist, weil sämtliches Blut in den Kopf geflossen ist und die restlichen Organe unterversorgt waren. Wenn nicht, werden wir es bald herausfinden, fürchte ich.

Unfähig irgendetwas zu tun, geschweige denn zu denken, schaue ich Marius weiterhin an, bis er mir einen Zettel und einen Stift entgegenhält. Als mir auch das keine Reaktion entlockt, reißt er das Papier in der Mitte durch und schreibt etwas auf die eine Hälfte, um es mir dann zu geben. Seine Handynummer. Ich schlucke. Meine Finger zittern, als ich danach greife.

Ich benehme mich wie ein unerfahrener Teenager. Oh Mann! Vom Alter mal abgesehen, stimmt das ja auch leider.

Bevor es noch peinlicher wird, schließe ich kurz meine Augen, atme möglichst unauffällig einmal durch und schreibe endlich meine Nummer auf. Ob er mein Zittern bemerkt?

Marius freut sich sichtlich und verspricht mir augenzwinkernd: »Ich melde mich.«

 

~*~*~

 

»Oh, Mann! Das war so peinlich!«, jammere ich, doch Rebecca lacht nur. »Ach, was! In zwanzig Jahren lacht ihr darüber. Außerdem ist das doch eine tolle Geschichte, die ihr irgendwann euren Nichten und Neffen erzählen könnt.«

Meine Schwester und mein bester Freund standen plötzlich unangemeldet vor meiner Tür und hatten es furchtbar eilig hereinzukommen. Doch bevor sie mir sagten, weshalb sie hier aufgekreuzt sind, hatte Rebecca schon erkannt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Manchmal ist es unheimlich, wie gut sie mich kennt. Abstreiten bringt in solchen Situationen nichts, sondern nur: gemeinsam auf die Couch setzen und reden. Ob ich will oder nicht.

»Ha, ha«, erwidere ich humorlos. »Heiko findet das auch nicht lustig, siehst du?«

»Ach, der.« Rebecca winkt ab und schaut zu ihm. »Alles okay, mein Schatz?«

Ich sehe, was sie meint. Heikos Ausdruck wirkt schmerzerfüllt.

»Ich frage mich, ob das eine gute Idee war«, erklärt er mit vorwurfsvollem Blick.

»Wieso?«, frage ich irritiert.

»Wie lange kanntest du den Typ? Eine Stunde? Und dann gibst du ihm einfach deine Nummer?«

»Was ist denn mit dir los?« Rebecca klingt so überrascht, wie ich mich fühle.

»Ich meine ja nur. Der Kerl ist mir nicht geheuer.« Heiko verschränkt die Arme vor der Brust. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er seine Meinung so schnell nicht ändern wird.

»Du kennst ihn doch gar nicht«, verteidigt meine Schwester Marius.

»Eben. Du kennst doch Falks Menschenkenntnis.« Ohne mich anzusehen, zeigt er auf mich.

»Ey!«, wende ich ein. »Ich bin hier, falls ihr es vergessen habt und ich bin durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, wem ich meine Nummer gebe. Meine Güte, der wird mich schon nicht gleich stalken. Vielleicht treffe ich mich auch gar nicht mit ihm.«

Die unerwartete Lautstärke meinerseits lässt die beiden mich überrascht ansehen. Heiko zieht eine Augenbraue hoch. Solch einen Ausbruch kennt er nicht von mir.

»Ich wollte nur anmerken, dass du vorsichtig sein sollst.« Er klingt trotzig.

»Ist angekommen«, informiere ich ihn. »Und jetzt sagt endlich, warum ihr mich überhaupt überfallen habt.«

Rebecca nimmt meine Hand und sieht mich betreten an. Was ist denn nun los? Wollen sie die Hochzeit absagen?

»Ich ... Wir wollten, dass du es als Erster erfährst«, beginnt sie geheimnisvoll. Auf ihrer Unterlippe kauend sieht sie mich unschuldig an. Ja, was ist denn nun?

Scheu blickt sie kurz zu Heiko, bevor sie mich schließlich anlächelt. »Du wirst Onkel.«

»Was?!« Hat sie gerade ernsthaft gesagt, dass ...?

»Oh, Gott!« Bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: Das ist kein Ausruf der Freude!

»Aber du ... ihr ... wie ...?« Hektisch wechselt mein Blick mehrfach zwischen den beiden hin und her. Rebecca schaut amüsiert, Heiko wirkt dagegen irgendwie unbeteiligt.

»Seid ihr sicher?«

»Ja, natürlich sind wir das.« Jetzt grinst sie über das ganze Gesicht. Scheiße!

Ich atme einmal tief durch. »Äh, okay. Glückwunsch.« Meine Manieren haben den Schock offenbar schneller überwunden als der Rest von mir.

»Danke!« Rebecca strahlt. Heiko nickt mir lediglich kurz zu und sieht dann angestrengt weg. Na, glücklich sieht definitiv anders aus.

II

 

Die nächsten Tage verlaufen wie gewohnt. Marius hat sich nicht gemeldet und ich werde den Teufel tun, ihn von mir aus anzurufen. Ich kann so etwas einfach nicht.

Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich ziemlich erbärmlich. Manchmal fühle ich mich wie Drew Barrymore in ›Ungeküsst‹. Kennt ihr diese olle Liebesschnulze? Nur, um das klarzustellen: Ich musste sie mir damals mit Birgit zusammen ansehen.

Zumindest geht es mir genauso wie ihr. Auch ich warte noch auf meinen ersten richtigen Kuss mit einem Mann. Bei One-Night-Stands küsst man ja bekanntlich meistens nicht.

 

Ich frage mich, wozu so ein blödes Herz und diese ganzen Gefühle eigentlich gut sind. Okay: Trieb, Arterhalt, dafür sind sie recht praktisch. Denn nur aus Vernunftgründen würden sich wohl kaum zwei Menschen zusammenfinden, um Nachwuchs zu produzieren.

Aber warum hat die Natur es nicht eingerichtet, dass der Verstand bei diesem Mist ein Wörtchen mitzureden hat? Ich meine, mein verdammtes Herz schlägt seit beinahe zwanzig Jahren für Heiko. Mein Kopf hat bereits vor langer Zeit realisiert und akzeptiert, dass das Ganze einseitig ist. Warum gibt es nicht die Möglichkeit, dass das Gehirn irgendwelche Botenstoffe aussendet und das Herz einfach aufhört mit dem Quatsch, sodass man sich jemand anderem zuwenden kann?

Echt, der menschliche Organismus ist eine komplette Fehlkonstruktion. Als Produkt irgendeiner Firma wäre der Mensch so nie auf den Markt gekommen oder sofort wieder eingestampft worden, wenn die Verantwortlichen vorher nicht noch auf Schadensersatz verklagt worden wären.

 

Stattdessen quäle ich mich mal mehr, mal weniger herum und mache gute Miene zum bösen Spiel, wie es so schön heißt. Ich lasse die blöden Kommentare von Henning über mich ergehen, ob ich mich schon mit meinem Loverboy getroffen hätte, und versuche, mich für Heiko und meine Schwester zu freuen.

Dachte ich bis vor Kurzem noch, die Hochzeit würde alles endgültig besiegeln, hat mich die Nachricht über Rebeccas Schwangerschaft eines Besseren belehrt. Heiko ist ein absoluter Familienmensch und dieses Baby wird die beiden auf ewig aneinanderbinden.

Ein weiteres Mal wird mir bewusst, dass sich in einem verborgenen Eckchen meines Herzens noch immer ein winzig kleines bisschen Hoffnung versteckt hatte. Wie dämlich kann ein Mensch sein? Wie viele Beweise braucht es noch, dass mein Herz endlich aufhört, in jeden Blick etwas hineinzuinterpretieren?

Womit wir wieder beim Thema ›Fehlkonstruktion‹ wären.

 

~*~*~

 

In der Mittagspause am Donnerstag entdecke ich zwei Nachrichten und einen verpassten Anruf auf meinem privaten Handy. Ich glaube, das ist Rekord, denn ich bekomme selten Nachrichten, schon gar nicht tagsüber, weil jeder, der mich kennt, weiß, dass ich während der Arbeit kaum auf mein privates Handy schaue oder es auch gerne mal zu Hause vergesse. In wirklich dringenden Fällen bin ich schließlich auf meinem Diensthandy zu erreichen, welches ich tagsüber immer bei mir trage. Meine Familie sowie Heiko und Birgit kennen die Nummer und wissen, dass ich bei diesem den Ton nicht ausstelle.

Nun gut, wollen wir doch mal sehen, wer sich gemeldet hat.

Die erste Nachricht stammt von meiner Mailbox, dass ich einen Anruf verpasst habe, dessen Anrufer keine Nachricht hinterlassen hat. Die zweite ist von Marius.

Mein Rücken verspannt sich von ganz alleine. Meine Hände beginnen zu zittern und ich überlege, ob ich die Nachricht überhaupt öffnen soll.

Ich höre bereits Birgits Worte in meinem Kopf, wenn ich ihr davon erzähle. ›Wie blöd kann man denn sein? Da wird dir ein Typ auf dem Silbertablett serviert und du zierst dich? Meine Güte! Du sollst ihn ja nicht gleich heiraten.‹

Mehrmaliges Durchatmen verscheucht die imaginäre Stimme meiner besten Freundin aus meinem Kopf. Ich finde mich unglaublich mutig, als ich schließlich auf das Nachrichtensymbol tippe.

 

›Hallo Falk! Ich wollte jetzt nicht auf deine Mailbox sprechen. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der einfach so auf Fremde zugeht, aber ich habe Angst, dass wir uns nie kennenlernen werden, wenn ich nicht den ersten Schritt mache. Das fände ich schade. Daher frage ich dich jetzt geradeheraus, ob du dich morgen Abend mit mir treffen magst? Nichts Großartiges. Wir könnten was essen gehen, Pizza oder so oder ein Bier trinken. Was immer du magst. Sag mir einfach Bescheid. Marius‹

 

Jetzt zittere ich noch mehr. Was antwortet man denn auf so etwas? Hilfe!

»Möchtest du ihn denn auch kennenlernen?«

Ich habe kurzerhand zum Telefon gegriffen und Birgit angerufen.

»Ich ... ich weiß nicht.«

»Also: ja.« Sie lacht. »Denn ich glaube, sonst hättest du mich wohl kaum angerufen, oder?«

Ich mag ihren Scharfsinn - normalerweise.

»Okay«, fährt sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten. »Hast du denn morgen Abend überhaupt Zeit?«

»Ja.« Natürlich habe ich die. Das weiß sie auch. Vermutlich will sie nur höflich sein.

»Na, dann schreib doch so etwas wie, dass du dich über seine Nachricht gefreut hast und du ihn gerne wiedersehen möchtest.«

Oje! Das schaffe ich nie! In meinem Kopf schwirrt bereits bei der Vorstellung an ein Treffen alles durcheinander. Wie soll ich das überstehen, wenn in meinem Hirn solch ein heilloses Chaos herrscht? Andererseits habe ich doch erst vor Kurzem beschlossen, endlich mein eigenes Leben zu leben und hier bietet sich gerade die perfekte Chance.

»Und die Sache mit dem Essen oder Bier? Was soll ich darauf antworten?« Was stellt Marius auch so komplizierte Fragen.

»Na, das, was du gerne tun würdest.« Wäre ich momentan nicht damit beschäftigt, die unlösbare Aufgabe zu bewältigen, einigermaßen klar zu denken, würde ich Birgit vermutlich durch das Telefon ziehen, um ihr den amüsierten Unterton aus der Stimme auszutreiben.

»Ich weiß es aber nicht«, gebe ich zu. Bekomme ich überhaupt etwas herunter, wenn wir irgendwo alleine sind? Also, so alleine wie man in einem Restaurant oder wo auch immer sein kann.

»Na, dann bitte ihn doch einfach, etwas vorzuschlagen.«

Das wiederum hört sich brauchbar an. Ich atme tief durch.

»Okay, danke dir.« Ich mache Anstalten aufzulegen, doch Birgits »He!« hält mich zurück.

»Du schaffst das, Großer und vergiss nicht: Ich will Details.«

Das hatte ich befürchtet. Mein Seufzen lässt sie lachen.

»Und zwar die unzensierte Version.« Birgits Liebesleben läuft momentan auf Sparflamme, weshalb sie jedem alles haarklein aus der Nase zieht. Auch ihre anderen Freunde bleiben davon nicht verschont. Bisher fand ich das witzig. So schnell ändern sich Ansichten.

Ich brumme nur kurz ins Telefon, bevor ich wirklich auflege.

 

Also, zurück zur ursprünglichen Aufgabe: die Antwort. Was hatte Birgit gesagt? Vielleicht hätte ich sie bitten sollen, mir einen Vorschlag zuzuschicken.

Nein, so etwas Blödes! Das werde ich doch wohl noch alleine hinbekommen.

Los geht’s. ›Hey Marius!‹

Oder sollte ich besser ›Hallo‹ schreiben? Oder ›Hi‹?

Hört sich alles nicht überragend an. ›Lieber Marius‹ ist dagegen definitiv zu vertraut und lässt viel zu viel Raum für Spekulationen übrig, denn möglicherweise ist er ja gar nicht lieb. Oder ich merke bereits nach dreißig Minuten, dass wir überhaupt nicht auf einer Wellenlänge liegen. Unter Umständen ist er ja ein militanter Weltverbesserer, der sich an Schienen kettet, wenn wieder ein Castor-Transport ansteht oder er hat irgendwelche merkwürdigen sexuellen Vorlieben, läuft gern in Windeln herum oder ...

Manchmal frage ich mich, ob es für meine wirren Gedanken irgendwo einen ›Aus-Knopf‹ gibt. War vermutlich Sonderausstattung und dementsprechend zu teuer.

Ich atme tief durch und versuche es erneut. ›Hallo Marius!‹

›Hallo‹ klingt gut, hat er schließlich auch geschrieben.

Weiter: ›Ich habe mich über deine Nachricht gefreut und würde mich gerne morgen Abend mit dir treffen. Schlag Uhrzeit und Ort vor. Bis dann, Falk‹.

Okay, womöglich etwas nüchtern, aber besser wird’s nicht.

 

Den ganzen Nachmittag sitze ich wie auf glühenden Kohlen. Er antwortet nicht. Hätte ich doch persönlicher sein sollen oder habe ich mit der Antwort zu lange gezögert?

Beim unerwarteten Klingeln meines Bürotelefons zucke ich zusammen. Ein direkter Anruf von extern. Ob er das ist? Allein die Vorstellung, seine Stimme zu hören, das Lächeln dabei zu erahnen und mir während des Gesprächs diese wundervollen Augen vorzustellen, bewirkt ein angenehmes Kribbeln meinen Rücken entlang. Mit zusammengepressten Lippen starre ich das Telefon an. Mein Herz rast.

Henning räuspert sich und sieht genervt zu mir herüber. Wir teilen uns das Büro. Ein Umstand, der mir sonst durchaus gefällt.

Okay, noch einmal tief durchatmen und mit zittrigen, verschwitzten Fingern nach dem Telefon greifen.

»Ihre Apotheken-Software-Solution. Mein Name ist Falk Meinecke. Was kann ich für Sie tun?«, melde ich mich formvollendet und klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich mich nicht verhaspelt habe.

Henning kann sich nur schwer das Lachen verkneifen. Meistens melde ich mich deutlich wortkarger. »A.S.S., Meinecke. Guten Tag!«, heißt es sonst. Wobei das »Guten Tag« dabei auch gerne mal wegfällt.

Mit angehaltenem Atem warte ich auf die männliche, raue Stimme von Marius.

Er ist es nicht. Das folgert mein messerscharfer Verstand beim weiblichen Klang meines Gesprächspartners. Nur eine normale Kundin. Was habe ich auch anderes erwartet?

 

~*~*~

 

Alle zehn Minuten starre ich auf mein Handy. Ach, wem will ich etwas vormachen? Es sind alle zwei Minuten oder noch weniger. So oft habe ich das Ding vermutlich noch nie angesehen.

Meine Hartnäckigkeit wird belohnt: Um kurz vor fünf gibt es endlich die erlösende Vibration. Eine Nachricht. Von Marius.

Dieses Mal bin ich nicht ganz so aufgeregt wie heute Mittag, aber wohl auch nur, weil es mich nicht völlig unvorbereitet trifft.

Dafür gebe ich zwei Mal den PIN für die Bildschirmsperre falsch ein, weil ich die Zahlen nicht richtig treffe. Beim dritten Versuch klappt es. Was bin ich doch gut!

 

›Super! Freu mich. Was hältst du von 19 Uhr, Pizzeria La Sante in der Richardstraße? LG, Marius‹

 

Der Name sagt mir nichts, aber wozu gibt es Internet und Suchmaschinen, nicht wahr?

Okay, scheint leicht zu finden zu sein. Da komme ich von mir zu Hause aus mit dem Bus gut hin.

Ich setze zur Antwort an und ja, ich schaffe es dieses Mal sogar, ohne vorher Birgit anzurufen.

›Hört sich‹ - weiter komme ich nicht, weil Uwe die Bürotür öffnet und mich unterbricht. »Falk? Besuch für dich.«

Mich besucht niemand im Büro. Warum auch?

»Häh?«, erwidere ich entsprechend geistreich.

»Ne, nicht ganz.« Ich höre Heikos amüsierte Stimme, noch bevor er sich an Uwe vorbeischiebt.

»Was ...?«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen. Hallo!« Er nickt Henning zu. »Ich dachte, wir gehen noch auf ein Bierchen weg.«

»Ich ... ähm ...« habe gerade meine Fähigkeit zu sprechen verloren, wie es aussieht. Dafür habe ich jetzt eine neue: dümmlich Starren und als Sonderausstattung gab es den offenstehenden Mund gratis dazu.

»Wie lange brauchst du noch?« Er setzt sich auf den einzig freien Stuhl in unserem Büro.

»Geh ruhig.« Hennings Stimme holt mich aus meiner Starre. »Aber vergiss nicht, die Antwort noch abzuschicken.« Er deutet mit einem Nicken auf mein Handy. Ich schaue verwirrt zwischen Heiko und Henning hin und her.

Woher weiß er ...? Und warum grinst Henning jetzt so?

»Fünf Minuten«, nuschle ich in Heikos Richtung.

Mein Herz hämmert in meiner Brust. Jetzt ist mein Verstand noch verwirrter. Im Grunde genommen kann ich nie rational denken, wenn Heiko in der Nähe ist. Heute scheint es besonders schlimm zu sein. Hat er sich mehr herausgeputzt als sonst? Auf jeden Fall hat er dieses Eau de Toilette aufgelegt, das ich so an ihm mag.

Henning räuspert sich. Stimmt, die Antwort. Was hatte ich bisher geschrieben? Ach, ja.

›Hört sich gut an. Ich freu mich auch. Bis morgen!‹ lautet die vollständige Nachricht, die ich schließlich abschicke.

Am liebsten würde ich mir jetzt selbst auf die Schulter klopfen, doch das sähe wohl reichlich dämlich aus. Muss ich mich eben so freuen.

 

~*~*~

 

Wir sitzen in unserer Stammkneipe und haben bereits das zweite Bier vor uns stehen. Außer ein paar Small-Talk-Floskeln gab es bisher keine großartige Konversation. Ungewöhnlich, denn Heiko ist sonst nicht zu stoppen und schlimmer als jede Frau.

Entschuldigt Mädels, aber seien wir doch mal ehrlich: Ihr labert die meiste Zeit nur. Vor allem über belangloses Zeug. Oder um es genauer zu sagen: für mich und alle anderen Männer belangloses Zeug.

Heiko reiht sich da schön ein. Möglicherweise hat er sich das auch nur angeeignet, um bei den Frauen zu landen. Blöd nur, dass er diese Eigenschaft nicht abstellen kann, wenn wir unter uns sind.

Nun, heute zumindest scheint er es zu können. Nein, eigentlich liegt ihm etwas auf dem Herzen. Das weiß ich einfach. Dafür kenne ich ihn zu lange. Nur bin ich mir nicht sicher, ob ich hören will, was ihn bedrückt, denn meist zieht mich das mit runter. Blöde emotionale Verbundenheit!

 

»Weißt du«, beginnt er schließlich. »Ich habe Angst.« Heiko sieht mich nicht an, sondern pult stattdessen konzentriert am Flaschenetikett herum.

»Du? Wovor denn das?«

In unserer Jugend hat er sämtliche Mutproben ohne mit der Wimper zu zucken durchgezogen. Bei jedem Abenteuer ruft er laut: ›Hier! Ich will! Scheiß auf die Konsequenzen!‹

Die Risikofreude ist sein Lebensinhalt. Wer sonst macht sich mit Mitte zwanzig mit einem Lektorat selbstständig? Ohne Erfahrung oder Referenzen?

Heiko lässt vom Etikett ab und fährt sich mit beiden Händen über sein Gesicht.

»Ich will nicht Vater werden«, flüstert er und schaut mich verzweifelt an.

»Was ...?« Für einen kurzen Moment steht mir klischeehaft der Mund offen.

»Aber ihr wollt heiraten. Gehört das nicht mit zum Plan?«

Nennt mich altmodisch, aber wenn eine Frau und ein Mann heiraten, denke ich, geschieht das in erster Linie aus Liebe - sollte es zumindest - aber doch auch, um eine Familie zu gründen.

Schulterzuckend wendet Heiko den Blick ab und greift erneut nach seiner Bierflasche, um sie herumzuschwenken. »Das ... Über diese Dinge habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Also vorher.«

Er seufzt und lacht humorlos auf. »Jetzt ist es wohl zu spät.«

Ich greife nach seiner Hand, bevor er mit dem Bier noch den Tisch badet.

»Hast du mit Rebecca darüber gesprochen?«

Sein Kopf ruckt hoch. »Bist du irre? Das kann ich ihr nicht antun. Sie freut sich so sehr.«

»Ja, schon. Aber ...«

»Nein!«, unterbricht er mich energisch. »Ich werde nichts sagen und du auch nicht. Ich ... werde mich schon daran gewöhnen, irgendwie. Klappt ja sonst auch immer.«

Ich schüttle den Kopf. Das ist doch totaler Blödsinn!

»Du kannst doch kein Kind mit meiner Schwester aufziehen, das du gar nicht haben möchtest.« Heiko zuckt erneut mit den Schultern.

»Liebst du sie überhaupt noch?«

»Ja, natürlich!« Okay, das kam schnell und tut verdammt weh. Mist! Vielleicht sollte ich Marius morgen mal fragen, ob es nicht irgendein Medikament gibt, das solche Gefühle unterbindet.


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