Leseprobe »Der Weg in die Freiheit«

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»Mein Name ist Julius und ich suche den Weg in die Freiheit.« Verdammt, selbstbewusst klingt eindeutig anders. Vielmehr spiegelt das Zittern meiner Stimme die Angst vor Anfeindungen oder Gelächter wider.

Dachte ich bis vor ein paar Minuten noch, Beschreibungen von schmerzhaft in der Brust hämmernden Herzen wären maßlos übertrieben, werde ich in diesem Augenblick eines Besseren belehrt. Es krampft regelrecht. Aber nicht nur mein Herz, auch sämtliche Blutgefäße pulsieren, vor allem im Hals. Jeder einzelne Herzschlag verschlimmert meinen Zustand. Unauffällig versuche ich zu schlucken. Vergebens. Hitze durchströmt mich wellenartig und ich verfluche mich dafür, diesen Fleece-Pullover angezogen zu haben.

Nach Bestätigung suchend schaue ich mich um. Acht Augenpaare mustern mich interessiert. Darunter eines, welches mir bereits vor Beginn dieser Gesprächsrunde aufgefallen ist: Hellblaue, strahlende Augen, umgeben von Fältchen, die davon zeugen, dass der dazugehörige Mann viel lacht. Dennoch liegt ein harter Zug um seinen Mund. Skepsis steht in seinen Blick geschrieben und die verschränkten Arme unterstreichen die Abscheu, die er ausstrahlt. Ganz so als wäre er nicht freiwillig hier oder als hätte er kein Vertrauen in den Erfolg dieser Veranstaltung. Ich verspüre das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen und ihm zu versichern, dass es keinen Grund für Zweifel gibt.

»Hallo Julius«, antwortet mir die gesamte Gruppe im Chor. So ähnlich stelle ich mir ein Treffen der Ano-nymen Alkoholiker vor. Grotesk, wenn man bedenkt, dass ich lediglich hier bin, um endlich normal zu werden.

Konrad, der Gruppenleiter, welchen ich auf Anfang dreißig schätze, ergreift das Wort. »Schön, dass du zu uns gefunden hast, Julius. Magst du uns von dir erzählen?«, fragt er freundlich. Das Lächeln ist offenbar in seinem Gesicht eingefroren. Mit den leicht gelockten, blonden Haaren, die ihm bis zu den Schultern reichen, der hellen Cordhose und dem dunkelgrünen Strickpulli wirkt er eher wie ein Spät-Hippie oder Ökoaktivist, als dass man ihn für einen der renommiertesten Reorientierungsbegleiter halten würde.

Man mag sich wundern, was ein Mann in meinem Alter hier sucht. Schließlich bin ich mit fast vierzig Jahren längst erwachsen und sollte einen festen Platz im Leben gefunden haben. Tja, sollte …

Zwar rede ich nur ungern über mich, aber darin liegt nun einmal der Sinn dieser Gruppe. Außerdem fiebere ich seit Wochen auf diesen Workshop hin. Endlich wird die Therapie abgeschlossen. Seit über einem Jahr konsultiere ich regelmäßig Dr. Gutleben. Er war der Erste, der mir zuhörte und meine Bedenken ernst nahm. Mit seiner Hilfe werde ich in absehbarer Zukunft endlich das Leben führen können, welches ich mir seit meiner Kindheit wünsche: vollkommen selbstbestimmt und ohne gesellschaftlich anzuecken. Viel zu lange habe ich mich gequält und mich nirgendwo dazugehörig gefühlt, aber das wird bald der Vergangenheit angehören.

Ich räuspere mich und greife zu meinem Wasserglas, nur um meine Hand gleich wieder zu senken. Ich zittere viel zu stark. Das würde nur in einer unfreiwilligen Dusche enden. Mein Blick huscht in die Runde. Abgesehen vom Gesprächsleiter sitzen hier noch zwei Frauen und fünf Männer. Von Anfang zwanzig bis Mitte fünfzig sind alle Altersstufen vertreten. Erneut kann ich mich kaum von dem Typ mit den Wahnsinnsaugen losreißen. In ihnen könnte man sich verlieren. Ich stelle mir vor, wie wir allein sind, wie er mich voller Verlangen mustert. Wie sich wohl seine Hände auf meiner Haut anfühlen? Nein, verdammt. Was ist denn mit mir los? Solche Gedanken hatte ich doch seit Wochen nicht mehr!

»Ich bin lange Zeit schwul gewesen«, erkläre ich leise. Ich weiß, dass Nervosität in dieser Umgebung unnötig ist, doch mein bisheriges Leben bestand nur aus Hass und Ablehnung. Sei es wegen meiner vermeintlichen Natur oder dem Wunsch, mich anzupassen. Daher ist mein Selbstbewusstsein schon vor langer Zeit auf der Strecke geblieben. Konrad lächelt mir aufmunternd zu. Ich nicke und räuspere mich. Am liebsten würde ich dezent den Pulloverausschnitt lupfen oder das Ding gleich ganz ausziehen. Hier drin ist es viel zu heiß. Doch es nützt alles nichts. Jetzt ziehe ich es durch.

»Aber ich weiß, dass es verkehrt ist. Denn es fühlt sich falsch an. Deshalb bin ich hier.« Ich schaffe es kaum, Blickkontakt mit einem der Anwesenden zu halten. Zur Beruhigung zähle ich meine Atemzüge. Eins, zwei, drei … Ich schlucke. Niemand sieht mich verständnislos an oder amüsiert sich über meine Worte. Nicht so wie meine sogenannten Freunde. Jene hielten meine Pläne tatsächlich für einen Scherz. Wobei ich sie in gewisser Weise verstehen kann. Schließlich hört es sich wenig glaubhaft an, wenn man verkündet, für eine Wesensänderung drei Tage in der Walachei verbringen zu wollen. Ihre Belustigung hielt jedoch nicht lang an. Wohl weil sie erkannten, dass ich es ernst meine. Flo, mein bester Freund und Mitbewohner, redete am dringlichsten auf mich ein. Bis heute haben wir unsere WG nicht aufgelöst. Während der Zeit meines Studiums und seiner Ausbildung hielt uns die Geldnot zusammen. Mittlerweile hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt, welche ich nicht missen möchte. Zudem ist es ein beruhigendes Gefühl, abends nicht in eine leere Wohnung heimzukehren.

Vor allem von ihm hatte ich mehr Verständnis erwartet. Schließlich ist er selbst hetero. Dass die anderen versuchten, mich mit fadenscheinigen Argumenten hiervon abzuhalten, hatte ich vorhergesehen, sind sie doch genauso fehlgeleitet wie ich. Nur habe ich mittlerweile die Absurdität erkannt. Ihnen steht dieser Schritt noch bevor, sofern sie jemals bereit sein werden. Ich bekehre niemanden, denn ich bin kein Messias und akzeptiere ihre Art zu leben, sonst wären wir wohl kaum befreundet. Doch nur weil sie es nicht verstehen, heißt es ja nicht, dass mein Weg falsch ist.

»Ich hab lange Zeit sexuell mit Männern verkehrt, hab in oberflächlichen Beziehungen gelebt, die nie von Treue geprägt waren.« Seufzend denke ich an Axel zurück, meinen letzten Freund. Anfangs spielte er mir die große Liebe vor, beteuerte, ich sei der Einzige für ihn und dass er keine anderen Männer ansehen wolle, was ich nur zu gern glaubte. An dieses Versprechen hielt er sich auch – für etwa drei Wochen. Dann wurde ich langweilig. Ihm fehlte der Kick. Mein Wunsch nach einer harmonischen Beziehung ließ mich seine Untreue viel zu lang ertragen. Doch als ich ihn eines Tages im Bett mit gleich zwei Kerlen erwischte und ihm eine Szene machte, lachte er nur. Du bist echt selten dämlich. Was du dir wünschst, gibt es bei uns nicht. Mann, das ist doch das Geile an uns Schwulen. Sex und hopp. Wer will schon nervigen Beziehungsstress?

Erst wollte ich es nicht wahrhaben, aber bei näherer Betrachtung sah ich es ein. Jede heterosexuelle Beziehung meines Freundes- und Bekanntenkreises ist von Harmonie geprägt, während die der homosexuellen Paare nie von Dauer sind und sich im Grunde nur um das Eine drehen. Dabei hatte ich so sehr gehofft, es allen Pöblern und erst recht meiner Mutter beweisen zu können. Nämlich dass Schwule nicht ekelhaft sind. Dr. Gutleben bestätigte mir, was ich unterbewusst schon lange wusste: Das Ausleben meiner vermeintlichen Homosexualität stellt lediglich eine Rebellion gegen meine dominante Mutter dar.

Mein Vater verstarb, als ich sieben Jahre alt war. Seit dieser Zeit fehlte mir eine männliche Bezugsperson. Laut meinem Therapeuten war dies der Grund, weshalb ich mit vierzehn zu experimentieren begann. Meine Mutter erwischte mich damals beim Knutschen mit meinem ersten Freund. Die folgende Tracht Prügel machte es mir für mehrere Tage unmöglich, schmerzfrei zu sitzen. Während meiner gesamten Jugendzeit schwankte ich zwischen dem Bedürfnis, mit einem Jungen zusammen zu sein und dem Wunsch, meine Mutter zufriedenzustellen. Und es war ja nicht nur meine Mutter, keiner aus meiner Familie verstand auch nur ansatzweise, wie man so fühlen konnte. Schließlich sähe die Natur nun einmal die Verbindung von Mann und Frau vor, um die Art zu erhalten. Alles andere seien nur Fantastereien und Aufmüpfigkeiten. Niemand aus meinem Umfeld hatte auch nur im Geringsten Verständnis für mich und ich begriff, dass mit mir etwas nicht stimmte. Selbst meine beste Freundin fand mich mit einem Mal eklig, als ich mich ihr in meiner Verzweiflung anvertraute. Hinzu kam, dass sie mich gleich am nächsten Tag vor der gesamten Schule outete. Der folgende Spießrutenlauf war kaum zu ertragen und der Vertrauenslehrer, der mich zu sich zitierte, erzählte mir etwas von einer Phase und dass ich mich stärker auf den Unterricht konzentrieren solle, dann würde das schon wieder vergehen.

Also tat ich genau das, nur blieb die erhoffte Wirkung aus. Das Mobbing nahm zu und ich schwänzte immer häufiger die Schule. Wenn ich mich einmal durchringen konnte hinzugehen, kamen Sprüche wie Na, wieder nächtelang Schwänze gelutscht? und dergleichen. Meine Versetzung wurde immer ungewisser, weshalb meine Mutter mich an einer christlichen Schule anmeldete. Ihr vorrangiges Ziel bestand dabei nicht darin, mich zu entlasten. Vielmehr sollten mir die richtigen Werte beigebracht werden und ich lernte, dass meine Liebe zu Männern alles andere als gottgewollt war. Nur wollte ich an einen solchen Gott glauben, der mich schuf und dann den Rest meines Lebens leiden ließ? Ich war hin- und hergerissen, dennoch gaben mir der Glauben und die Gemeinschaft unerwartet einen Halt, welchen ich noch nie zuvor gespürt hatte. In der Hoffnung, eines Tages irgendwo dazuzugehören, hielt ich mich diszipliniert an sämtliche Regeln. Täglich betete ich für mehr Kraft, um meinen Weg zu meistern.

Der Umzug zum Studium nach Berlin wirkte zuerst wie ein Befreiungsschlag auf mich. Schließlich sind die Grenzen in einer solchen Großstadt deutlich weiter gesteckt. Ich gab die Hoffnung nicht auf, alles vereinen zu können: Meinen mittlerweile stark gefestigten Glauben sowie die Sehnsucht nach einer liebevollen Partnerschaft und Familie. Schnell fand ich Anschluss, lernte andere schwule Männer kennen und lebte all meine geheimen Wünsche aus. Doch mit jedem dieser Treffen vergrößerte sich die Distanz zwischen Wunschvorstellung und gelebter Realität. Das beklemmende Gefühl, mich auf dem falschen Weg zu befinden, verstärkte sich rasant. Bis ich auf Axel traf. Er verstand es, mir die nötige Kraft zu geben. Er akzeptierte meinen Glauben, wollte daran aber auf keinen Fall teilhaben. Ich begann ein Doppelleben. Einerseits gab es die Gemeinde, in der ich schnell Anschluss gefunden hatte, andererseits Axel, den ich liebte. Stets war ich darauf bedacht, diese beide Welten nicht zu vermischen. Zwar scheinen einige in der Kirchengruppe durchaus tolerant zu sein, aber man weiß ja, dass Toleranz häufig nur so weit geht, wie man nicht persönlich betroffen ist. Ich gab die Hoffnung dennoch nicht auf, es allen zeigen zu können; dass es den einen Mann gibt, der ebenso empfindet wie ich, und an einer homosexuellen Beziehung nichts falsch ist.

Obwohl ich wusste, dass Axel für derlei Dinge weniger empfänglich war, startete ich den Versuch eines romantischen Wochenendes. Seine Reaktion bestand aus einem spöttischen Lachen. Für so ein Heten-Zeug, wie er es betitelte, hatte er keinen Sinn. Er wollte Spaß, so oft und mit so vielen verschiedenen Männern wie möglich. Also gab ich nach und erkannte schließlich, dass meine Vorstellung einer Beziehung für immer ein Wunschtraum bleiben würde, zumindest solange ich schwul bin.

 

»Schließlich ist Promiskuität doch die Lebensweise schwuler Männer, egal, was uns die Medien oder die Fantasien fehlgeleiteter Autoren diverser Schmachtgeschichten weismachen wollen«, füge ich bedauernd hinzu. Kopfschüttelnd greife ich nach meinem Glas und drehe es hin und her. »Ich ahmte meine sogenannten Freunde nach, verhielt mich rücksichtslos, egoistisch, nur auf mich und meine Triebe fixiert. Ich will nicht sagen, dass es mir ernsthaft schlecht ging, aber glücklich war ich ebenfalls nicht. Vielmehr fühlte ich mich fremd in meiner sexuellen Identität. Mir fehlte die Nähe, das Gefühl, mit einem anderen Menschen eins zu sein. Immer wieder stellte ich mir die gleichen Fragen: Ist das alles? Wofür lebe ich? Wofür lebt ein Mensch überhaupt? Doch um eine Familie zu gründen und sich fortzupflanzen. Schließlich existieren wir alle nur zum Arterhalt, wenn wir es mal auf das Wesentliche herunterbrechen, nicht wahr? Und das ist nun einmal eine Sache, die naturgemäß nur zwischen einem Mann und einer Frau möglich ist. Ein Haus, eine Frau, Kinder – das war schon von früh an mein Lebenstraum. Doch meine vermeintliche Homosexualität steht diesem Traum entgegen. In den letzten Jahren wurde ich zunehmend unglücklicher. Ich schlidderte von einer katastrophalen Beziehung in die nächste, ohne einen Sinn zu sehen. Jetzt habe ich endlich die Ursache erkannt: Ich möchte nicht mehr homosexuell sein. Ich habe eingesehen, dass meine Mutter und alle anderen recht hatten. Meine biologische Uhr tickt. Wenn ich eine Familie gründen will, muss ich bald damit anfangen. Doch das kann ich nicht, solange ich noch dieses Verlangen nach Männern in mir trage. Deshalb bin ich hier.« Ich atme tief durch. Wow! Welch befreiendes Gefühl, endlich einmal meine Gedanken auszusprechen, ohne dafür verurteilt zu werden. Die Menschen hier verstehen mich. Sie sind wie ich.

Die anderen Teilnehmer nicken mir zu. Nur der Typ mit den himmlischen Augen sieht mich nahezu versteinert an. Ich lächle, in der Hoffnung, ihn ebenfalls dazu zu animieren, doch stattdessen wendet er den Blick ab und presst die Lippen aufeinander.

»Gut«, sagt Konrad. »Das war ja schon recht viel. Du bist bereits sehr weit. Das ist eine gute Voraussetzung, sodass ich für dich hohe Erfolgschancen sehe. Ich denke, wir machen jetzt erst einmal fünfzehn Minuten Pause.« Sofort beginnt Gemurmel. Einige stehen auf, gehen umher, unterhalten sich. Mit leicht zitternden Händen hole ich meine Zigaretten hervor. »Kann man hier irgendwo …?«, frage ich Konrad und halte die Schachtel zur Erklärung hoch.

»Ich zeig dir die Raucherecke«, erklärt der Wahnsinnsaugen-Typ. Automatisch grinse ich viel zu übertrieben, doch ich kann es nicht unterbinden. Wie kann ein Kerl, der die vierzig sicher locker überschritten hat, dermaßen heiß aussehen? Verdammt, ich will doch nicht mehr auf diese Weise denken. Das ist falsch.

Hastig folge ich ihm. Kaum sind wir in der kleinen Ecke angekommen, fällt mir ein, dass ich mein Feuerzeug drinnen vergessen habe. Ganz klasse. »Hier.« Als wüsste er es, hält mir der Typ seins entgegen.

»Danke.« Schnell inhaliere ich die ersten Züge. Ein Teil der Anspannung fällt augenblicklich von mir ab. »Wie heißt du eigentlich?«, frage ich, als ich ihm das Feuerzeug zurückgebe, denn unsere Gruppe war vor der Pause noch nicht mit der Vorstellungsrunde fertig.

»Bernd«, erwidert er knapp und zieht gleich wieder an seiner Zigarette.

Sonderlich gesprächig scheint er ja nicht zu sein. Nun, vielleicht muss man ihn nur aus der Reserve locken. »Kommst du aus der Nähe?«

Kopfschüttelnd bläst er Rauch zur Seite weg. »Berlin.« Flüchtig streift mich sein Blick, bevor er sich wieder auf seine Zigarette konzentriert.

»Wirklich? Ich auch.« Das gibt’s ja nicht. Wieso ist er mir nie aufgefallen? Ob er wohl in meiner Nähe wohnt? Berlin ist groß und dennoch manchmal wie ein Dorf. »Machst du auch schon länger eine Therapie?«, frage ich, was mit einem Kopfschütteln beantwortet wird. Kameradschaftlich lege ich eine Hand auf seine Schulter. »Keine Angst, du schaffst das auch noch. Der Anfang ist am schwersten. Aber sobald man die ersten Erfolge spürt, wird es leichter. Es ist gut, dass du dich dieser Gruppe angeschlossen hast.«

Sein intensiver Blick geht mir durch und durch. Es kribbelt an Stellen, die es nicht sollten. »Das heißt, du machst zusätzlich eine Therapie?«, fragt er schließlich.

Ich nicke. »Ja, ich geh seit etwa einem Jahr zu Dr. Gutleben. Wenn du magst, geb ich dir seine Adresse. Der ist wirklich gut.«

»Inwiefern?«, fragt er skeptisch. Offenbar ist er noch lange nicht vollständig davon überzeugt, dass eine Änderung möglich ist. Ich verstehe ihn. Auch ich zweifelte in den ersten Wochen sehr stark und war mehr als einmal versucht, alles hinzuwerfen.

»Es hat sehr schnell die Ursache meiner Homosexualität gefunden«, erkläre ich.

»Ursache? Welche soll das denn sein?«, fragt er kopfschüttelnd.

Ich ziehe ein weiteres Mal an der Zigarette. »Nun, es ist eine Kombination verschiedener Umstände aus meiner Kindheit, die sich bis jetzt in das Erwachsenenalter erstrecken. Mein Vater ist recht früh gestorben, wodurch mir eine männliche Bezugsperson fehlte. Dafür war meine Mutter strenger, als es üblicherweise der Fall ist. Dazu kommt noch, dass ich an einem leichten Beckenschiefstand leide.« Fragend zieht Bernd eine Augenbraue hoch und mustert mich inte-ressiert. »Ich trag spezielle Einlagen im Schuh«, erkläre ich hastig, weil er sicher deswegen so genau schaut.

»Beckenschiefstand? Und deshalb bist du schwul?« Er klingt beinahe belustigt, was mich unerwartet hart trifft. Aber es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu überzeugen. Den Weg zu sehen und bereit sein, ihn zu gehen, muss jeder für sich selbst.

»Ja, na ja, nicht deswegen direkt. Vielmehr ist es so, dass ich mich dadurch unbewusst weniger attraktiv finde und mich deshalb den Männern zugewandt habe«, gebe ich Dr. Gutlebens Erläuterungen wieder.

»Und das glaubst du wirklich?«

Ich lächle. Bernd ist definitiv noch nicht so weit. »Hier geht es um psychologische Tatsachen, nicht um esoterische Fragen. Dr. Gutleben hat mir das sehr anschaulich und ausführlich erläutert.«

Bernd schnaubt und zuckt mit den Schultern. »Wir müssen.« Mit dem Kopf deutet er in Richtung Tür, tritt seine Zigarette aus und geht an mir vorbei. Sein Duft umweht mich und ich schließe genießerisch die Augen. Schlecht, ganz schlecht.

Ich bin kurz davor, mir selbst eine Ohrfeige zu verpassen. Hallo? Ich bin hier, um diese Gefühle ein für alle Mal loszuwerden, um endlich ein normales Leben zu führen. Schnell folge ich Bernd zurück in den Raum, an dessen Tür das Schild Der Weg in die Freiheit – Willkommen zur Konversionstherapie hängt.

 

~*~

 

Die Gespräche und Behandlungen durch Konrad sind einzigartig. Außenstehende sehen ihn sicher als Quacksalber. Tatsächlich kann ich einen gewissen spirituellen Aspekt nicht verleugnen. Dennoch habe ich in der letzten Sitzung eindeutig gespürt, wie ein großer Anteil meines homosexuellen Gedankenguts mich verließ. Es fühlte sich an, als würde eine Last, die zuvor auf meine Seele drückte, mit einem Mal davonschweben. Auch Konrad hatte es sehen können. »Die Luft hinter deinem Kopf flirrt regelrecht. Ich werde jetzt die Eintrittspforten verschließen, um den Wiedereintritt zu blockieren.« Seitdem fühle ich mich mit jedem Atemzug leichter und befreiter. Ich könnte geradezu singend und tanzend umherwandeln. Endlich bin ich am Ziel. Ich werde ich.

 

Drei Tage. Im Nachhinein kann ich ja zugeben, dass ich vor Beginn dieses Wochenendes noch zweifelte, dass es in dieser kurzen Zeit möglich wäre, meine angestrebte Veränderung endgültig zu besiegeln. Doch Konrad hatte recht: Ich war bereits sehr weit. Zwar strengten mich die intensiven Gespräche an und die Gruppenaufgaben zermürbten mich, doch es tut gut zu wissen, dass ich nicht allein bin. Es gibt andere, die ebenso fühlen wie ich. Dennoch ertappe ich mich noch ab und zu dabei, zu Bernd zu schielen, der wiederum nahezu stoisch wirkt; irgendwie abwesend.

Für zwei weitere Kursteilnehmer diente dieses Wochenende wohl eher als Partnervermittlung, wenn ich mir die verliebten Blicke so ansehe. Ich verurteile sie nicht. Wenn jemand mit seiner homosexuellen Identität glücklich ist, soll er sie ausleben. Dagegen spricht schließlich nichts.

 

Am Ende des dritten Tages fühle ich mich wie ausgekotzt und mehrfach durch den Fleischwolf gedreht. Andererseits spüre ich eine ungewohnte Freiheit. Ich bin endlich ich. So wie ich schon immer sein wollte.

»Dann steht bitte alle auf«, bittet Konrad. »Und jetzt darf jeder noch einmal etwas zum Abschluss sagen.«

Ich räuspere mich und sehe lächelnd in die Runde. Bernd weicht meinem Blick aus. Schade, hatte ich doch gehofft, wir könnten uns anfreunden. »Mein Name ist Julius und ich möchte dir danken, Konrad. Durch dich hab ich den Weg in die Freiheit gefunden.«

Er lächelt. »Das freut mich, Julius. Für die Zukunft wünsch ich dir alles erdenklich Gute. Du weißt, was du nun zu tun hast.«

Ich nicke. Natürlich weiß ich das. Ich werde mich auf die Suche nach einer Frau konzentrieren und Kontakte zu den Personen, die mich negativ beeinflussen, abbrechen. Wenn mein Chef diesen Wandel bemerkt, wenn ich endlich Familienvater werde, wird er mich bestimmt in der nächsten Beförderungsrunde nicht wieder übergehen. Von nun an führe ich das Leben, das ich schon immer wollte.

 


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